
Chancen und Risiken von VR in der Wissensvermittlung
Im professionellen Umfeld wird virtuelle Realität bereits seit einiger Zeit zur Wissensvermittlung, bzw. -aneignung eingesetzt. So werden Flugstunden im Simulator gesammelt, schwierige OPs am virtuellen Patienten geübt und Wartungen komplizierter Maschinen immer wieder durchgespielt. Inzwischen sind Headsets auch für das private Umfeld erschwinglich und theoretisch kann nun jeder die Entstehung des Lebens in aufwendig animierten 3D-Szenen anschauen.
Wer einmal eine VR-Brille aufgesetzt hat versteht die Faszination und hat direkt nach dem ersten Mal dieses „will ich wiederholen“-Gefühl. Meistens zumindest, denn einigen wird auch einfach nur schlecht. Diese Motion Sickness (oder kurz VIMS, für Visually Induced Motion Sickness) entsteht durch die widersprüchlichen Signale von visuellen und körperlichen Eindrücken. Auge und Innenohr unterliegen unterschiedlichen Eindrücken, womit das Gehirn ersteinmal lernen muss umzugehen.
Dieses Krankheitsbild ist noch recht neu. Im Gegensatz zur Seekrankheit und der Simulatorkrankheit, wo man sowohl visuellen als auch körperlichen Einflüssen unterlegen ist, kam diese Form der Übelkeit erst mit der weiten Verbreitung von Headsets in den letzten fünf Jahren auf. Dem entsprechend steht die Forschung hier noch am Anfang, die gesammelten Erfahrungswerte sprechen sich jedoch für einen mäßigen und langsam steigernden Einsatz von VR-Brillen aus. Auch wenn die Übelkeit vereinzelt noch Stunden nach dem Einsatz einer VR-Brille auftritt, ist über nachhaltige Schädigungen nichts bekannt.
Software-Hersteller implementieren meist spezielle Spielemodi, die den Grad der Immersion künstlich herabsetzen, zB. durch eine Art Tunnelblick, oder nur stufenweises drehen. Denn je mehr der User sich in die VR hereinfühlen kann, also die Immersion hoch gehalten wird, desto eher kommt es bei unerfahrenen VR-Anwendern zu den Symptomen.
Aber abgesehen von VIMS möchte ich hier im speziellen auf die Eindrücke eingehen, welche durch ihre intensität einen Effekt auf die Wissensvermittlung haben. Dazu möchte ich als Beispiel statistische Abfallmengen ins Spiel bringen.
Der Mensch hat die in der Natur einzigartige Fähigkeit ein Vorstellungsvermögen sein eigen zu nennen. Das half dabei eine Sprache zu entwickeln und somit die Fähigkeit zum abstrakten und symbolischen Denken. Auch wenn der Mensch sich als Krone der Schöpfung versteht, werden doch nur die wenigsten von uns in der Lage sein z.B. ein Flugzeug zu bauen.
Unser Vorstellungsvermögen ist also, mal mehr mal weniger, limitiert. Meist hat der Mensch Probleme mit Eintitäten oder Dimensionen, die größer sind als er selbst, also seinem Urzeit-ich.
Ich veranschauliche das mal vom kleinen zum großen: zwei Handvoll Nahrung oder Saatgut kann sich der Mensch wunderbar vorstellen. Fünf Kilogramm Kartoffeln oder Fleisch auch noch … sofern man sich ggf. an den letzten Einkauf vor der Grillparty erinnert.
Bei größeren Mengen wird es dann schon schwieriger: 200 kg Haus- und Sperrmüll pro Kopf und Jahr? Das ist doch soviel wie 2x Onkel Herbert. Ja gut, das geht noch. 500kg Haushaltsabfall je Kopf und Jahr? Entspricht in etwa dem Gewicht eines durchschnittlichen Rennpferdes. Das ist schon etwas spezieller, aber auch hier findet sich noch ein hilfreiches und notwendiges Gedankenkonstrukt: eine vorstellbare Referenzgröße.
Schwieriger ist es dann schon, wenn man sich die Menge physisch, also eher das Volumen als die Masse vorstellen möchte. Wir brauchen die Dichte des Materials. Und das kann beim Abfall je Ausgangsstoff und Anteil daran sehr unterschiedlich sein.
Vergleichen wir in diesem Zusammenhang doch wieder etwas vermeintlich kleineres: Eine 10kg Hantelscheibe versus 10kg Schaumstofflocken. Zur Orientierung: Mit den Schaumstofflocken würden sich ca. 15-20 Kissen der Größe 50x50cm stopfen lassen.
Richtig anstrengend wird es wenn wir uns wieder Statistiken mit größeren Dimensionen widmen – um beim Abfall zu bleiben – wenn man sich 400 Millionen Tonnen Abfall vorstellt. Soviel Abfall produzieren die Deutschen nämlich in einem Jahr (inklusive Bau und Abbruchabfälle). Vergleich gefällig? Bei 400 Millionen Tonnen liegt die jährliche Welt-Papierproduktion. Die Gesamtweltbevölkerung vertilgt 400 Millionen Tonnen Fisch und Fleisch im Jahr. *
Wenn noch nicht abstrakt genug: alle Vögel dieser Welt fressen wissenschaftlichen Schätzungen zur Folge 400-500 Millionen Tonnen Insekten im Jahr. Das ist ganz schön viel Biomasse. Okay, vielleicht wirklich zu abstrakt, daher wieder zurück zum Beispiel Papier. Nehmen wir doch einfach mal an, die Menschen hätten das Geheimnis der drei Muscheln aus „Demolition Man“ ergründet, würden also kein Toilettenpapier mehr benötigen und nur noch DIN A4 Papierbögen zu 80g/m2, wobei ein Blatt 0,1mm dick ist, produzieren. Bei gleichbleibender Jahresproduktion. Außerdem würde man die Papiere stapeln. Nach einem Jahr hätte man einen Papierturm, der 400 Millionen Tonnen wiegt … und 8.000.000 km hoch wäre. Das wären mehr als 20x die Strecke Erde<->Mond!**
Der menschliche Geist kennt dazu nur eine Beschreibung: unbegreiflich viel. Sollten Sie bis hier hin durchgehalten haben: Vielen Dank! Ich gehe mal davon aus, dass sie eine gewisse Sympathie für Mathematik hegen, sonst hätten Sie sicherlich schon die Flucht ergriffen. Mit Mathematik lassen sich diese großen Dimensionen beherrschen, was aber nicht heißt, dass diese dadurch begreifbarer sind.
Aber wieviel eindrücklicher ist es, wenn man in den Straßen New Yorks steht – direkt neben dem Empire State Building – und dann die Hälfte des Gebäudes inklusive der Mauern und allen Hohlräumen mit Papier ersetzt und aufgefüllt werden würde.*** Es wäre immer noch „viel“, äußerst abstrakt, aber begreifbar, weil sichtbar „viel“.
Das ist eine der Stellen wo VR unterstützen kann das unbegreifliche sichtbar zu machen. Referenzgrößen zu wählen, die trotz gewaltigen Ausmaßen auf visuellem Wege noch begreifbar sind. Auch wenn wir div. Referenzgrößen kennen und uns diese durchaus vorstellen können ist es, naturgebunden, immer noch intensiver Dinge „mit eigenen Augen“ zu sehen.
VR gibt uns sogar die Möglichkeit diese Relationen zu „fühlen“. Bleiben wir bei dem Beispiel unseres Papier- Empire State Buildings; wenn wir davor stehen wirkt dieser Papierberg schon eindrucksvoll. Hat man die Gelegenheit von einem Nachbargebäude auf unser Konstrukt zu schauen, erhält man einen Überblick und kann das halbe Gebäude mit der Nachbarschaft in Relation zu setzen. Und würde man dann – angenommen der Papierstapel endet in einer Höhe von rund 200m – von diesem auf die Straße springen, dann würde man virtuell ganz schön lange fallen.
Soviel zur ersten Überlegung, was man mit VR erreichen kann und was sich auf diesem Wege viel greifbarer vermitteln lassen kann. Aber birgt VR auch Gefahren?
Ich befürchte schon, wenn auch nicht so ohne weiteres messbar.
Aber in einer Zeit, wo Wortschöpfungen wie „alternative Fakten“ oder „gefühlte Realität“ benutzt werden, um seinen Willen oder Wunsch zu erklären. Wo ominösen Quellenangaben aus Telegramgruppen eher vertraut wird, als dem gesunden Menschenverstand und seriösen Studien, da kann man mit den Eindrücken einer erschaffenen virtuellen Realität den „gefühlten Fakten“ noch mehr Nachdruck verleihen als mit simpler Sprache. Das Unterbewusstsein speichert die Erlebnisse in der VR als „schon mal gesehen“ ab. Dinge kommen einem vertraut vor und man ist eher geneigt diesen, selbst erfahrenen, Umständen zu vertrauen als wenn diese einem nur beschrieben worden wären.
Dieses Risiko durch VR auch „falsche“ oder verstörend wahnhafte Perspektiven einzunehmen widmet sich z.B. das Spiel „Flat Earth VR“ auf satirische Art. Man nimmt hier die Position eines Verschwörungsgläubigen ein. Jemandem, der glaubt, dass die Erde eine Scheibe ist. Im Spielverlauf müssen eine Reihe von Rätseln gelöst werden, ehe man in den VR-Weltraum reisen kann und durch ein ausdrucksstarkes Foto der Erdscheibe die ”Wahrheit“ verbreiten kann.
Es ist wie bei allen technischen Weiterentwicklungen. Sie sind Fluch und Segen zugleich und wir werden lernen müssen mit diesen auf verantwortungsvolle Art und Weise umzugehen.
* Werte für die anschließende Rechnung gerundet
** ausgehend davon, das ein DIN A4 Blatt mit einer Blattstärke von 0,1mm 5 Gramm wiegt.
Eine Tonne sind dann schon 200.000 Blatt Papier und ergeben einen Stapel von 20m. Eine Million Tonnen sind dann 200.000.000.000 Blatt und 20.000 km. 400 Millionen Tonnen ergeben dann 8 Millionen Kilometer, wobei die einfache Entfernung Erde/Mond bei rund 384.400 km liegt.
*** Es passen auf einen Quadratmeter 16 Blatt DIN A4 Papier. 8 Millionen Kilometer geteilt durch 16 sind 500.000m3. Das Empire State Bulding hat ein Volumen von ca. 1.000.000 m3
